Graduate Seminar in Theatre Studies at Keio University

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Paradoxie der Subjektivierung in kulturellen Räumen

 

Wichtige geisteswissenschaftliche Theorien weisen seit dem frühen 20. Jahrhundert darauf hin, dass individuelle Selbstverwirklichung nicht ohne eine als paradox zu begreifende Seinsweise des Ich vollzogen werden kann. So untersuchte Sigmund Freud die Mechanismen des unbewussten Ich und lotete dessen in sich divergierende Struktur aus. Der Mensch kann sich um das von ihm Gewünschte derart leidenschaftlich bemühen, dass sein Verlangen so weit eskaliert, dass er – ihm selbst undurchsichtig – sein Leben riskiert. Diesen Doppelstatus von Wollen und Selbstgefährdung fasst Freud in den Paarbegriff „Lebenstrieb und Todestrieb“ und bezeichnet damit ein spannungsreich in sich verschlungenes Geschehen, das unterhalb der Schwelle des individuellen Bewusstseins wirkt. Die auf Selbstverwirklichung zielende Aktivität erscheint immer durch die potenzielle Gefahr flankiert, dass der Mensch über seine Grenzen hinaus zur Selbstzerstörung getrieben wird.

 

Paradoxe Formen der Selbstzerstörung finden sich in europäischen Tragödien und werden zugleich in deren Theorien reflektiert. Von dieser These her untersucht der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann in seiner Schrift Tragödien und dramatisches Theater (2013) sowie in verschiedenen Aufsätzen Figuren wie etwa Antigone, Phèdre oder Karl Moor, die in ihrem Streben nicht nur gesellschaftliche Grenzen, sondern gleichzeitig die je eigenen überschreiten. Diesen Prozess begreift Lehmann als paradoxe Überschreitung des Ich, welche sich ohne die Gefahr der Selbstzerstörung nicht realisieren kann. Solche Tragödien stiften Sinn, wenn sie den Zuschauenden die Vielfalt des widersprüchlichen Umgangs mit Lust und Zerstörung erfahrbar machen.

 

Bemerkenswert ist, dass jene Paradoxie des selbstzerstörerischen Subjekts ebenso im Kabuki- und Bunraku-Theater der Edo-Zeit hervortritt (1603-1867). Viele wesentliche Figuren sind darauf gefasst, ihre eigene „Rolle“ bis zum Ende durchzuhalten, d.h. ihr Leben zu opfern für die Rettung von etwas, was sie unbedingt bewahren wollen. Dies sind z.B. die deklassierten Samurai in Chushingura, die für ihren hingerichteten Herrn verzweifelte Rache an seinen Gegnern üben; die Samurai-Bedienstete Onoe in Kagamiyama-Kokyo-no-Nishikie, die für den Schutz ihres Herrn im Familienkonflikt ihr Leben hingibt; die Frau aus der hochrangigen Familie Tamate-gozen in Sesshu-gappo-ga-tsuji, die, um den von ihr geliebten Schwiegersohn zu retten, den Tod durch die Hand des Vaters erleidet, damit die Familie wieder ohne Konflikt leben kann. Das freiwillige Selbstopfer – wie es unmittelbar nach der Edo-Zeit seitens des Aufklärers Yukichi Fukuzawa als negative Auswirkung einer feudal gestuften Gesellschaft kritisiert worden ist, gilt heute als unakzeptabel. Trotzdem ziehen diese Kabuki- und Bunraku-Stücke immer noch viele Zuschauer an. Gerade die teils sehr grotesken Darstellungen jener „Selbstzerspaltungen“ (bunretsu) der Figuren scheinen heutige Menschen vielfach anzusprechen.

 

Solche Beispiele lassen vermuten, dass es bei der Thematisierung des paradoxen Subjekts Gemeinsamkeiten zwischen dem europäischen und japanischen Theater gibt. Darin deutet sich an, dass der Gedanke einer Paradoxie des Subjekts in unterschiedlichen Kulturen Gültigkeit hat: sowohl in der europäischen, in der die Haltung des Individualismus gesellschaftlich dominant geworden ist, als auch in der japanischen, in der eher auf eine „harmonische“ Ordnung des Ganzen Gewicht gelegt wird. Andererseits weisen die Beispiele auch Momente auf, die diesem oder jenem Kulturraum ausschließlich zuzugehören scheinen. Von diesem gedanklichen Ansatz her diskutieren Wissenschaftler aus Japan und Deutschland anhand der Kunstformen des Theaters sowie des Tanzes Paradoxien des Ich, die sowohl im Hinblick auf den eigenen als auch den jeweils anderen Kulturraum erneut ausgelotet und bewertet werden sollen.

 

Flyer

 

Datum/Ort


Datum: 26. Januar (Sa.) 2019, 11:00 ~ 16:30
Ort: Discussion Room, 5th floor of South Building “minami-kan” at Mita Campus of Keio University

 

Vorträge


11:00 ~11:20
 Prof. Dr. Eiichiro Hirata
 Kurze Einführung: Paradoxie der Subjektivierung in der japanischen Modernisierung
11:25 ~ 12:05
 Dr. Eva Holling (Universität Gießen)
 Komisches und tragisches Subjekt. Theater und „symbolische Kausalität”
12:10 ~ 12:50
 Kanji Miyashita (Keio University Tokyo)
 Verdrehung im Spiel mit Tatsumi Hijikata.
 Über die Tanzperformance von Takao Kawaguchis „Zum Text Kranke Tänzerin
14:00 ~ 14:40
 Mai Miyake (Keio University Tokyo)
 Subjektivierung durch Erinnerungen/Phantasien?
 -Zur Inszenierung Komachi-Fuden von Ota Shogo
14:45 ~ 15:25
 Prof. Dr. Gerald Siegmund (Universität Gießen)
 Sprache, Körper und Subjekt: das Theater René Pollesch zwischen Tragödie und Komödie
15:40 ~ 16:30
 Schlussdiskussion