Graduate Seminar in Theatre Studies at Keio University

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Erinnerung an Hans-Thies Lehmann

 

Eiichiro Hirata

 

Hans-Thies Lehmann, Theaterwissenschaftler, der eine langjährige freundschaftliche Beziehung mit den Kolleg*innen und Theaterschaffenden in Japan pflegte, ist am 16. Juli 2022 im Alter von 77 Jahren in Athen verstorben.
Ich habe ihn als Magisterstudent in Tokio 1992 kennengelernt, als er anlässlich der Hamlet-Maschine-Produktion mit Josef Szeiler am Tokyo Engeki Ensemble Vorträge über Heiner Müllers und Szeilers Theaterarbeiten hielt. Ich war gleich fasziniert von seinen Ideen über das Theater, aber auch von seiner ehrlichen Art und Weise, wie er mit den Diskussionspartner*innen in/um Tokio die Meinungen austauschte.
Zehn Jahre danach, im Herbst 2002, wo meine Kolleg*innen und ich die japanische Fassung seines bahnbrechenden Buches Postdramatisches Theater veröffentlichten, war Hans-Thies Lehmann in Tokio zu Gast.
Ihn und seine Lebensgefährtin Eleni Varopoulou habe ich am Tokioter Flughafen begrüßt und während ihres einmonatigen Aufenthalts verschiedene Veranstaltungen an der Uni, aber auch an verschiedenen Theatern realisiert. So entstand eine einzigartige Freundschaft mit ihm. Er besuchte fast jedes Jahr Tokio und andere japanische Städte. Dabei haben wir uns fast jedes Mal schon am Flughafen getroffen, umarmt und gleich danach wie alte Freunde über bevorstehende gemeinsame Pläne gesprochen. Bei all seinen Tokio-Aufenthalten besuchten wir unzählige Theateraufführungen und diskutierten oft gleich nach den Vorstellungen mit den Theaterschaffenden am jeweiligen Ort. Mich beeindruckte seine Haltung zu den Regisseur*innen und Schauspieler*innen, die er bisher nicht kannte. Er hat sich auf jede kleine Geste oder Sprechart auf der Bühne konzentriert und versucht, darin Ansätze für produktive Fragestellungen herauszufinden. Viele seiner ideenreichen Gespräche mit mir und den hiesigen Theaterschaffenden ergaben sich aus einer unglaublich offenen Haltung zum asiatischen Theater. Diese Haltung führte zur Publikation von Theater in Japan, das Thies und ich 2009 herausgaben.
Beim großen Erdbeben in der Tohoku-Region mit den Folgen der atomaren Katastrophe in Fukushima 2011 hat er den dortigen Theaterschaffenden Spendenhilfe angeboten und im Herbst Tokio für Diskussionen mit ihnen besucht. Im Herbst 2013 realisierten Thies und ich gleich nach der Veröffentlichung seines Buches Tragödie und dramatisches Theater ein Symposium über das wichtige Thema an der Keio-Universität Tokio.
Die Fortsetzung seiner regelmäßigen Japan-Besuche wurde durch seine lange Krankheit verhindert. Dennoch wollte er 2019 und 2020 Tokio besuchen. Wir machten konkrete gemeinsame Pläne und bereiteten den Besuch, der leider nicht zustande kam, vor. In seiner letzten E-Mail an mich hat er geschrieben, „sollte sich später noch ein Wunder ereignen, so dass ich die Reise doch noch unternehmen kann“. Ich hatte immer noch eine kleine Hoffnung, auch wenn ich wusste, dass es ein Wunder sein würde.
Ich möchte wieder zum Tokioter-Flughafen Haneda fahren, um ihn zu umarmen und gleich mit ihm über bevorstehende gemeinsame Pläne zu sprechen. Das mag vielleicht komisch klingen, aber Thies würde das verstehen. Denn er hat in vielen Noh-Theatern das Gespräch zwischen den Toten und den Lebenden erfahren und weiß bestimmt, dass ein solch unmöglich erscheinendes Gespräch vom starken Wunsch der Lebenden verwirklicht werden will.